
Selig, die keine Gewalt anwenden
- On 1. Januar 2016
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- Benno Elbs, Bischof, Gewaltlos, keine Gewalt, Selig, Seligpreisungen
Liebe Jugendliche,
„Nie wieder Krieg!“ Gerät dieser tiefe Wunsch und entschlossene Vorsatz nach den unsäglichen Leiden und verheerenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs allmählich in Vergessenheit? Gewiss, Europa hat seit 1945 eine lange Periode des Friedens erlebt. Aber auch hier bleiben Konflikte nicht aus: der Zerfall Jugoslawiens 1991, Krieg in der Ostukraine. Konfliktherde, Kriege und Terror wohin wir schauen: Syrien, Afghanistan, Naher Osten, Südsudan, Nigeria, Kongo…
Auch unser Alltag ist nicht so friedvoll wie es vielleicht scheinen möchte. Täglich sind wir mit Gewalt konfrontiert. Es gibt kaum Filme ohne Gewaltszenen. Computerspiele drehen sich häufig um Gewalt. Wir erleben Krisen und Gewalt in den zwischenmenschlichen Beziehungen, in Familie, in der Schule, im Betrieb, in der Nachbarschaft. Nicht immer ist es körperliche Gewalt. Auch Psychoterror, Mobbing, seelische Wunden verletzen tief. Sie lösen im Gehirn dieselben schmerzhaften Empfindungen aus wie körperliche Misshandlungen.
Und wir erleben andere Formen von unerträglicher struktureller Gewalt, wenn 800 Millionen Menschen Hunger und Armut erleiden. Wir erleben Gewalt an der Schöpfung, Natur- und Umweltzerstörung, Ausbeutung der natürlichen Ressourcen.
Wir würden all das gerne ändern. Wir träumen von einer gerechten Welt, die allem Leben mit Achtung, Wertschätzung und Liebe begegnet. Jesus preist jene selig, die keine Gewalt anwenden. Jesus ist selbst mitten in diese Welt der Ungerechtigkeit gekommen, er hat sich nicht damit abgefunden. Er ist unter die Räder der Macht gekommen. Er wurde bekämpft, beseitigt, zu Tode gebracht. Und er ist auferstanden.
Was ist die Wurzel von so viel Gewalt im Großen wie im Kleinen, zwischen Menschen, zwischen politischen und wirtschaftlichen Systemen? Warum sind bis heute Kriege, Terror, grausamste Verletzungen der Menschlichkeit und der Menschenwürde möglich?
Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas (1906-1995) gibt darauf eine verblüffende und vielleicht schockierende Antwort. Er stammte aus einer jüdischen Familie in Litauen, ging schon als 17-Jähriger zum Studium nach Straßburg und wurde bald auch französischer Staatsbürger. Seine Eltern, zwei Brüder und Angehörige seiner Frau wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Und so hat er sich die Frage gestellt: Warum war der Holocaust möglich? Warum war es möglich, dass so viele Menschen grausamst und systematisch ermordet wurden? Eine Frage, die heute genauso aktuell ist. Lévinas Antwort lautet: Weil die Menschen vergessen haben, in das Antlitz der Mitmenschen zu schauen.
Der christliche Glaube lädt dazu ein, dem Menschen ins Angesicht zu schauen. Weil es die Grundüberzeugung gibt, der Mensch ist das Ebenbild Gottes, wie es in der Schöpfungsgeschichte in der Bibel heißt. Philosophen und Theologen wie Origenes oder Augustinus von Hippo drücken es so aus: In jedem Menschen wohnt ein Funke Gottes. In jedem Menschen können wir das Göttliche suchen und entdecken.
Dietrich Bonhoeffer schreibt: „Gott lässt sich aus der Welt hinausdrängen, ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt, und nur so ist er bei uns und hilft uns.“ Wer Gewalt erleidet, wer an der Gewalt mitleidet, die anderen angetan wird, kann die Wut, Kraft, Hoffnung entwickeln und Gnade erfahren, die die Fesseln der Gewalt zu sprengen vermögen.
Die Liebe ist verletzlich, verwundbar. Aber sie ist immer stärker als der Tod. Die Güte des Herzens ist die Kraft, die unsere Welt am grundlegendsten verändert. Darum haben Machthaber auch immer Angst vor jenen, die ohne Waffen kämpfen, die auf die gewaltlose Macht der Liebe setzen – Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Mutter Teresa und andere. Die Auferstehung Jesu ist das verlässliche Bild gegen alle Gewalt und alle Angst. Dieses Bild dürfen wir an jedem Sonntag als einem kleinen Osterfest feiern. Dieses verlässliche Bild müssen wir immer wieder anschauen. Es birgt Hoffnung gegen die Schwerkraft des Todes und der Gewalt.
Selig, die keine Gewalt anwenden.
Fragen zum Weiterdenken:
_ Wo & wie erlebe ich / erleben wir heute Gewalt?
_ Wo wäre mein / unser Widerstand dagegen angesagt?
_ Wie könnte dieser Widerstand aussehen?
_ Mit wem könnte ich mich / könnten wir uns dafür zusammen tun?
Bischof Benno Elbs
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